Veröffentlicht am 5. Juli 2022
Die Krux mit den Arztzeugnissen: Beweis oder Vortäuschung?
Einleitung
Vermutlich jeder Vorgesetzte oder HR-Verantwortliche kennt es und hat sich schon darüber geärgert: Kaum steht eine Kündigung im Raum oder treten in einem Arbeitsverhältnis Spannungen auf, meldet sich der Arbeit- nehmende krank. Damit verhindert er eine Kündigung bzw. vereitelt diese, weil eine solche nichtig wäre. Den gleichen Vorgang sieht man auch nach einer gültig, also vor der Krankheit und mithin vor Beginn der Sperrfist, ausgesprochenen Kündigung. Beiden Fällen ist gemeinsam, dass damit die Beendigung des Arbeitsverhält- nisses verzögert und die Lohnfortzahlungspflicht des Arbeitgebers ausgelöst wird.
Arbeitnehmende können selbstverständlich in der Tat berechtigt arbeitsunfähig sein; das trifft meistens auch zu. In diesen Fällen ist es legitim, dass sie den gesetzlichen Schutz verdienen. E gibt jedoch oft umstrittene Fälle, bei denen die Frage des möglichen Missbrauchs des Kündigungsschutzes im Raum steht.
Arbeitgeber und insbesondere Geschäftsführer und HR-Verantwortliche finden in diesem Beitrag Antworten auf die häufigsten Fragen, womit sie zu mir als Unternehmensjurist immer wieder gelangen.
Der erste Teil befasst sich mit dem Arztzeugnis: Was ist ein Artzeugnis in rechtlicher Sicht, welche formelle und inhaltliche Anforderungen gelten und wann hat der Arbeitnehmer ein solches einzureichen. Der zweite Teil behandelt die Fragen, was der Arbeitgeber tun kann, wenn der Arbeitnehmer kein Arztzeugnis einreicht, wenn er Zweifel am Wahrheitsgehalt des vorgelegten Arztzeugnisses hat oder wenn das Arztzeugnis als gefälscht erscheint. Der Leserlichkeit Willen wird hierin nur von der männlichen Form Gebrauch gemacht.
I. ARZTZEUGNIS
1. Was ist ein Arztzeugnis?
Ein Arztzeugnis ist eine Urkunde im zivil- und strafrechtlichen Sinn und mithin ein Beweismittel, worin der behandelnde Arzt den Grund (Krankheit oder Unfall), den Grad und die Dauer der Arbeitsunfähigkeit des Ar- beitnehmenden bescheinigt. Um der Beweispflicht zu genügen, muss es schriftlich sein. Ein Artzeugnis ist allerdings kein striktes Beweismittel, sondern es stellt lediglich eine Parteibehauptung dar, die widerlegt wer- den kann (mehr dazu in Ziffer II.2.2).
Auch im Ausland ausgestellte Arztzeugnisse (z.B. bei Grenzgängern, bei Arbeits- oder Ferienaufenthalten im Ausland) sind Urkunden im Sinne des Schweizer Rechts und haben daher grundsätzlich dieselbe Beweiskraft wie in der Schweiz ausgestellte Dokumente. Sind sie in einer anderen als einer schweizerischen Landesspra- che verfasst, bedürfen diese jedoch einer beglaubigten Übersetzung.
2. Formelle und inhaltliche Anforderungen am Arztzeugnis
Arztzeugnisse dürfen ausschliesslich von Ärzten, d.h. von Personen mit abgeschlossenem Studium der Humanmedizin und einer effektiven Zulassung als Arzt ausgestellt werden. Darunter fallen Haus- und Fachärzte (also auch Psychiater), nicht aber Psychologen oder Physiotherapeuten.
Weil ein Arztzeugnis eine Urkunde auch im strafrechtlichen Sinne ist, ist die Ausstellung eines falschen Arztzeugnisses strafbar. Der Aussteller eines solchen muss daher sicherstellen, dass er die attestierte Arbeitsunfähigkeit medizinisch belegen kann. Die Grundlage hierfür ist eine fachkundige, persönliche Untersuchung des Patienten. Arztzeugnisse, die nicht auf einer persönlichen Konsultation, sondern z.B. auf einer telefonischen Schilderung des Arbeitnehmenden basieren, gelten zwar immer noch als Beweismittel, haben aber in einem Gerichtsprozess nur eine eingeschränkte Beweiskraft.
Dies vorausgeschickt, muss ein Arztzeugnis mindestens folgende Angaben und Elemente enthalten:
- Personalien der arbeitsunfähigen Person
- Anfangsdatum der Arbeitsunfähigkeit
- Grad der Arbeitsunfähigkeit
- Enddatum oder voraussichtliche Dauer der Arbeitsunfähigkeit
- Datum der Ausstellung
- Stempel und eigenhändige Unterschrift des behandelnden Arztes
Um Unklarheiten zu vermeiden, sollte im Arztzeugnis von Teilzeit-Arbeitnehmenden, die nur teilweise arbeitsunfähig sind, erwähnt werden, ob sich die attestierte Arbeitsunfähigkeit von z.B. 50% auf das Arbeitspensum von 50% des Arbeitnehmenden bezieht oder ob damit 50% von einem Vollpensum von 100% gemeint sind. Des Weiteren sollte darin aufgeführt werden, ob es sich um eine arbeitsplatzbezogene Arbeitsunfähigkeit handelt.
3. Wer muss wann ein Arztzeugnis einreichen?
Aus dem Grundsatz von Art. 8 ZGB, wonach wer von einer behaupteten Tatsache Rechte ableitet, hat deren Vorhandensein zu beweisen, hat der Arbeitnehmer ein Arztzeugnis einzureichen.
Das Gesetz regelt nicht, ab wann er dem Arbeitgeber ein solches vorlegen muss. Der Arbeitgeber ist daher grundsätzlich berechtigt, ein Arztzeugnis ab dem ersten Tag der Arbeitsunfähigkeit zu verlangen. In der Regel wird dies jedoch meist entweder in Gesamtarbeitsverträgen oder Individualarbeitsvertrag geregelt. Üblicherweise wird ein Arztzeugnis zwischen dem dritten und vierten Tag der Arbeitsunfähigkeit verlangt.
II. FEHLEN EINES ARZTZEUGNISSES UND ZWEIFEL AM WAHRHEITSGEHALT: WAS TUN?
1. Vorgehen, wenn der Arbeitnehmende kein Arztzeugnis einreicht
Reicht der Arbeitnehmende trotz vertraglicher Regelung oder Aufforderung des Arbeitgebers wissentlich und willentlich kein Arztzeugnis ein, kann der Arbeitgeber den Arbeitnehmenden (schriftlich) abmahnen und das Arztzeugnis einfordern. Weigert sich der Arbeitnehmende dennoch ein solches einzureichen, sind die Meinungen uneinheitlich, wie der Arbeitgeber dagegen vorgehen kann.
Gestützt auf Art. 8 ZGB und der Arbeitspflicht gemäss Art. 321 OR vertrete ich hierbei einen dezidierten Ansatz: Erstens können die Lohnzahlungen spätestens ab dem Tag, an welchem der Arbeitnehmende das Arztzeugnis hätte einreichen müssen, eingestellt werden. Zweitens ist der Arbeitnehmende unter Kündigungsan- drohung schriftlich aufzufordern, die Arbeit umgehend wieder aufzunehmen. Begründet ist dies mit der Tatsa- che, dass der Arbeitnehmende infolge der Nichteinreichung eines Arztzeugnisses als arbeitsfähig gilt und seine Absenz somit ein unberechtigtes Fernbleiben von seiner Arbeit ist.
2. Vorgehen bei Zweifeln am Arztzeugnis
2.1 Mögliche Gründe für Zweifel
Zweifel am vorgelegten Arztzeugnis können aus verschiedenen Gründen entstehen: Es kann inhaltlich unvollständig, unklar oder unleserlich sein. Es kann auch zu spät vorgelegt oder rückwirkend ausgestellt worden sein. Zweifel können auch entstehen, wenn mehrere Arztzeugnisse von verschiedenen Ärzten vorliegen, wenn ein Arztzeugnis ohne Konsultation oder lediglich auf die Schilderungen des Arbeitnehmenden ausgestellt wurde. Schliesslich kann auch der Zeitpunkt der Arbeitsunfähigkeit z.B. stets vor oder nach dem Wochenende und/oder Feiertagen Zweifel am Wahrheitsgehalt von Arztzeugnissen aufkommen lassen.
2.2 Möglichkeiten des Arbeitgebers, die Arbeitsunfähigkeit zu überprüfen
Der Handlungsspielraum des Arbeitgebers ist bei Zweifeln am Arztzeugnis aufgrund des Arztgeheimnisses eng: Der Arzt darf weder die Diagnose offenlegen noch sonstige Auskünfte dazu erteilen. Der Arbeitgeber steht dennoch nicht hilf- und machtlos da und er kann bei Zweifeln am Artzeugnis
- mit dem Einverständnis des Arbeitnehmenden ein ausführliches Arztzeugnis verlangen. Darin können z.B. Angaben zur Arbeitsplatzbezogenheit der Arbeitsunfähigkeit und die Restarbeitsfähigkeit gemacht werden. Dabei sind der Arbeitsplatz, die Hauptaufgaben des Arbeitnehmers sowie die Besonderheiten und Anforderungen des Arbeitsplatzes zu beschreiben sowie die Arbeitszeigen anzugeben.
- auf eigene Kosten eine vertrauensärztliche Untersuchung durch einen vom ihm bezeichneten Arzt anordnen. Das Recht hierzu leitet sich aus der Treuepflicht des Arbeitnehmers ab. Es empfiehlt sich dennoch, eine solche Regelung explizit in den Anstellungsbedingungen oder im Personalreglement aufzunehmen. Damit werden Diskussionen von vornherein ausgeschlossen.
Gegenstand der vertrauensärztlichen Untersuchung ist lediglich die Überprüfung der attestierten Arbeitsunfähigkeit bzw. die Bestätigung oder die Nicht-Bestätigung des vorgelegten Arztzeugnisses. Der Vertrauensarzt ist nämlich wie der den Arbeitnehmer behandelnde Arzt am Arztgeheimnis gebunden. Er darf daher die Diagnose nicht offenlegen. Um dem Vertrauensarzt zu ermöglichen, die Begründetheit der attestierten Arbeitsunfähigkeit zu beurteilen, muss der Arbeitnehmende seinen behandelnden Arzt gegenüber dem Vertrauensarzt vom Arztgeheimnis entbinden. Er soll ihn ermächtigen, dem Vertrauensarzt alle zur Überprüfung der Arbeitsunfähigkeit sachdienlichen Informationen zu erteilen und Patientendaten bzw. eine Kopie davon auszuhändigen. Eine solche Arztgeheimnisentbindungserklärung sollte der Arbeitgeber verfassen und dem Aufgebot zur vertrauensärztlichen Untersuchung mit der Aufforderung zur Unterzeichnung beigelegt werden.
Im Aufgebot zur vertrauensärztlichen Untersuchung sind nach meinem Dafürhalten explizit die Konsequenzen (insb. die Entkräftung des Artzeugnisses und Annahme der Arbeitsfähigkeit und Einstellung der Lohnzahlung) aufzuführen im Falle, da der Arbeitnehmende die Untersuchung verweigern würde. Gegebenenfalls kann sogar eine Verwarnung mit Kündigungsandrohung angezeigt sein.
Bestätigt der Vertrauensarzt das vom Arbeitnehmenden vorgelegte Arztzeugnis, wird es äusserst schwierig, die Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmenden zu widerlegen. Kommt jedoch der Vertrauensarzt zu einem anderen Schluss als der den Arbeitnehmenden behandelnden Arzt, kann der Arbeitgeber auf die vertrauensärztliche Untersuchung abstellen und, wie in Ziffer II.1 erläutert, die Lohnzahlung einstellen und den Arbeitnehmenden zur Wiederaufnahme der Arbeit auffordern.
2.3 Was gilt, wenn der Arbeitnehmer die vertrauensärztliche Untersuchung verweigert oder vereitelt?
Selbst wenn die Anordnung einer vertrauensärztlichen Untersuchung vertraglich z.B. in den Anstellungsbedingungen oder im Personalreglement geregelt ist, kann sie nicht zwangsweise durchgesetzt werden. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Arbeitgeber die Konsequenzen dafür zu tragen hat.
Wenn der Arbeitnehmende eine vertrauensärztliche Untersuchung verweigert oder gar vereitelt (z.B. indem er seinen behandelnden Arzt gegenüber dem Vertrauensarzt nicht vom Arztgeheimnis entbindet), hat die Konsequenzen seines Handelns oder Unterlassens zu tragen: Erstens ist das vorgelegte Arztzeugnis entkräftet (bei mehreren Arztzeugnissen je nachdem bereits das erste) und der Arbeitnehmende gilt somit als arbeitsfähig. Zweitens die vorübergehende Einstellung der Lohnzahlung und drittens, allenfalls eine fristlose Kündigung, wenn er vorgängig einschlägig verwarnt wurde.
3. Vorgehen bei Gefälligkeitszeugnissen und gefälschten Arztzeugnissen
Wie in Ziffer I.1 dargelegt ist ein Arztzeugnis eine Urkunde im zivil- und strafrechtlichen Sinn. Werden darin falsche oder unrichtige Tatsachen beurkundet oder wird ein Arztzeugnis gefälscht oder verfälscht, stellt dies eine Urkundenfälschung im Sinne von Art. 251 StGB dar. Eine solche kann für den ausstellenden Arzt standes- und strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen und für den Arbeitnehmenden ebenfalls strafrechtliche sowie arbeitsrechtliche.
3.1 Vorgehen bei Gefälligkeitszeugnissen
Ein Gefälligkeitszeugnis ist eine Falschbeurkundung, in dem trotz Kenntnis der Arbeitsfähigkeit eine Arbeitsunfähigkeit attestiert wird. Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Gefälligkeitszeugnisses können beispielsweise das unverhältnismässig späte Aufsuchen eines Arztes sein oder das wiederholte Einreichen von Arztzeugnissen von jeweils unterschiedlichen Ärzten. In der Praxis dürfte der Nachweis eines Gefälligkeitszeugnisses allerdings sehr schwierig sein. Im Zweifelsfall kann der Arbeitgeber den Arbeitnehmenden zu einer vertrauensärztlichen Untersuchung schicken (siehe hierzu Ziffer II.2.2).
3.2 Vorgehen bei gefälschten Arztzeugnissen
Ein gefälschtes Arztzeugnis ist umgangssprachlich ein Fake: Nichts oder nicht alles, was darinsteht, ist wahr. Es handelt sich wie beim Gefälligkeitszeugnis um eine Urkundenfälschung im Sinne von Art. 251 StGB.
Bestehen Zweifel über die Echtheit des Arztzeugnisses genügt meist eine Rückfrage beim (angeblich) unterzeichnenden bzw. ausstellenden Arzt. Die einzige Frage, die er beantworten muss, ist, ob er das fragliche Arztzeugnis ausgestellt hat bzw. ob er dessen Inhalt bestätigen kann.
Erweist sich das Arztzeugnis als (i.d.R. vom Arbeitnehmenden) ge- oder verfälscht, ist eine fristlose Kündigung und gegebenenfalls sogar eine Strafanzeige wegen Urkundenfälschung ins Auge zu fassen. Eine Strafanzeige ist nach meinem Dafürhalten umso angebrachter, als der Arbeitnehmende eine besondere Vertrauens- oder Leitungsfunktion innehat (z.B. bei Buchhaltern, Unterzeichnungsberechtigten u.Ä.).
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Bei Fragen stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung.
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